Ein Beitrag von Ursula Rihovsky

Der Samstagabend am 13. März dieses Jahres füllte und erfüllte sich mit einem Vortrag von Wei Ling Yi zum beginnenden Frühjahr, der ersten Jahreszeit des Jahres. Nach dem Mondkalender lag der Anfang am 12. Februar, nach dem Sonnenkalender beginnt der Frühling am 20. März.

Verbunden mit den Ausführungen unseres Lehrers waren Übungen, die wir aus unserer Praxis zwar kennen, die aber stets, wenn Wei Ling Yi sie mit uns durchführt, neues Gewicht erhalten. Es handelte sich um Sequenzen aus dem Duft Gong, dem Xiang Qi Fa, um das Öffnen und Schließen des Herzlotus‘ und um das stille Empfangen von Qi in stehender Haltung mit nach oben geöffneten Händen. Die Übertragung von Energie, die mit jedem Wort Wei Ling Yis natürlicherweise gegeben ist, ließ sich in den genannten Übungen in einer spürbaren Vervielfältigung erleben. Wei Ling Yi führte durch, was wir Energieübertragung nennen. Dafür bedanken wir uns von Herzen!

Als ich am folgenden Morgen durch das Fenster blickte, ‚tröpfelte‘ es, wie ich als Kind zu sagen gelernt hatte, wenn ich sah, dass mein Großvater, der Bauer war, zum Himmel blickte und das Wetter für die folgenden Stunden und Tage feststellte und benannte und so einschätzen konnte, welche Felder er zuerst bearbeiten sollte und wie lange seine Prognose wohl anhalten würde. Er spürte sich förmlich in das ein, was wir Wetterlagen nennen, horchte, wog den Kopf hin und her, bevor er sich entschied. Eine Wettervorhersage aus den Medien kannte er nicht. Und als sich die Zeiten geändert hatten, brauchte er sie nicht. Oft übertraf er die offiziellen Mitteilungen zum Wetter aus dem Radio und wunderte sich im allgemeinen, wie ungenau und plump die Vorhersagen ausfielen. Das Horchen und Spüren, nicht das Messen, waren die Grundlagen seiner Erkenntnisse, damit seine Arbeit gut gelingen konnte, die sich in unmittelbarer Verbindung mit der Erde und dem Himmel vollzog. Und ‚feines Wetter‘, wie er zu sagen pflegte, so wie der sanfte Regen heute morgen, erlebte er am liebsten draußen unter dem freien Himmel.

Der leise Regen draußen an diesem Sonntag schenkte mir einen neuen Ausdruck der komplexen Vorgänge, über die Wei Ling Yi am Abend zuvor gesprochen hatte. Gestern noch tobten aus heiterem Himmel plötzlich Sturm und peitschende Regenströme. Dem vorausgegangen hatte sich vorgestern ein mit Donner und Blitz begleiteter Hagelschauer über Potsdam ereignet, der in den nächsten Stunden schon gefolgt war von einem wundervollen Regenbogen unter stahlblauem Himmel, dessen eines der Bogenenden direkt im Welt Lotus Zentrum zu fußen schien.

Alles zu dieser Zeit läutet den Frühling ein. Das Frühjahr, das als Jahreszeit in unseren Breiten mit gesetzmäßiger Regelmäßigkeit immer wieder hervorbricht, stellt uns jedes Mal wieder vor das unfassbare Phänomen, das, woher auch immer, ein Wachsen und Blühen beginnt, deren letzte Ursachen, deren Urbeginn wir nicht kennen. Woher kommt sie, diese Kraft, ja dieses Wissen, wie all dies im großen Zusammenhang zu geschehen hat? Um dieses kosmisch-irdische Wunder uns näher zu bringen, uns auch selbst in dieses Geschehen einzugliedern, davon handelte der Vortrag von Wei Ling Yi.

Wei Ling Yi nahm noch einmal Bezug auf die Kraft des Büffels, der zu dieser Zeit damit beginnt, seinen Beitrag an Arbeit und Anstrengung auf den Feldern zu leisten. In unserem Land haben diesen Dienst vor dem Einsatz von Maschinen Ackerpferde, Ochsen und in manchen Gegenden auch Kühe übernommen. Fraglos kommt das Tier Büffel, das im Jahreshoroskop der chinesischen Kultur eine bedeutende Rolle spielt, allen Dringlichkeiten nach, arbeitet Tag für Tag gleichmäßigen Schrittes und leistet den Beitrag, den er erbringen kann, um dem Frühjahr Beistand für das sich entfaltende Wachstum und das Erblühen der Erde zu leisten und den Menschen zu unterstützen. „Der Mensch tue es ihm gleich“, sagt Wei Ling Yi eindringlich, „eine Eingliederung in alle Vorgänge um uns, die der Himmel und die Erde bewirken und die uns sichtbar, aber gerade auch in die, die sich unserem Blick entziehen, sollte erfolgen.“

Wei Ling Yi sprach dann von der Samenkraft und den immanenten Potenzialen eines Samens, für deren letztgültige Herkunft wir keine Antwort haben. Wo liegt der Beginn des Wachsens und Sprießens, des Blühens und der Ausgestaltung der gesamten Pflanzendecke der Erde? Woher wissen Vögel, Insekten, Falter und Schmetterlinge, die Frösche gar mit ihrem ganz eigenen Gesang des Quakens, dass die Zeit angebrochen ist, sich wieder zu zeigen? Wie kann es sein, dass ein Summen, Brummen, Tanzen und eine betörende Leichtigkeit zwischen allem Platz greift? Und wie kommt es, dass dies alles auch uns und unseren Körper ergreift?

In der traditionellen chinesischen Gesundheitslehre und gleichwohl Lehre für die Lebenspflege finden wir eine Verankerung in diesen Kräften des Frühlings für die Stärkung von Leber und Gallenblase, die dem Element Holz zugeordnet sind. Das gilt ebenso für das Zusammenspiel von Herz (Feuer) und Leber (Holz) und Blut und insgesamt für die Erneuerung unserer eigenen Lebenskraft und unseres Immunsystems  –  ganz so, wie das Frühjahr uns Erneuerung lehrt. Aufwachen nach der Winterzeit, Reinigung, Neuanfang stehen an. Dazu, betont Wei Ling Yi, dass wir unseren eigenen Frühling nicht nur denken und fühlen sollen; das reicht nicht. Es muss Bewegung hinzukommen. Wir stehen zum Beispiel zu anderen Zeiten des Morgens auf, erleben die Frühlingsbrise oder auch die stille Berührung eines frühen Morgens oder eines schönen Sonnenaufgangs in dieser Jahreszeit. Wir wenden uns dem Himmel wie der Erde zu und praktizieren unsere Übungen mit dem Qi, die wir dem Frühling anpassen. Zum Klopfen der Leberpunkte vergessen wir nicht, das Mantra mit den heiligen Lauten ‚schü ya schü‘ zu singen. Wir beginnen unsere Tage gut vorbereitet für alle Herausforderungen, die folgen.

Bleibt zu hoffen, dass wir nach und nach mit unserer unaufhörlich stattfindenden Kultivierung dahin gelangen, unsere inneren Augen und Ohren für die Schau und das Horchen in die YIN-Welt hinein entwickeln. Es gibt mehr als das, was wir in der YANG-Welt sehen, hören, schmecken, riechen und ertasten können. Diese Grenzüberschreitung, das heißt die Kräfte dazu sowohl wie die moralische Beschaffenheit unseres Herzens, wird uns nicht geschenkt. Wir müssen all unsere Erkenntnisse selbst erringen. Niemand kann sie für uns vollbringen. Dafür sind allein wir selbst verantwortlich und zuständig. Und mit dem diesjährigen Frühling unternehmen wir erneut Mühe und Anstrengung für unser eigenes Wachstum und Blühen.